Freitag, 15. Juni 2012

Andreas Thiel - Die Wahllosigkeit der Gewählten

Weltwoche Ausgabe 14.Juni 2012

Andreas Thiel

Die Wahllosigkeit der Gewählten

Der Bundesrat ist wie ein Wähler, der die schlechteste Partei wählt und nachher behauptet, er hätte keine andere Wahl gehabt.
Andreas: Sagen Sie mal, Frau Widmer-Schlumpf, warum hat der Bundesrat Herrn Blocher verpfiffen, nachdem er diesem doch äusserste Diskretion zugesichert hatte?

Eveline: Versprechungen, die der Bundesrat macht, haben generell nur so lange Gültigkeit, bis der Bundesrat seine Meinung ändert.

Andreas: Und damit ist ja ständig zu rechnen. EU-Beitritt ja, EU-Beitritt nein, CO2-Reduk­tion ja, CO2-Reduktion nein, das heisst eigentlich schon, aber neuerdings Atomausstieg ja, das heisst eigentlich nein, aber die Stimmung nach Fukushima war grad so emotional ... Ist Wankelmut unsere neue Staatsdoktrin?

Eveline: Es zeigt doch nur, wie dynamisch der Bundesrat ist.

Andreas: Dynamisch? Die Regierung will sparen und macht Schulden. Kurz darauf will sie noch mehr sparen und macht noch mehr Schulden.

Eveline: Aber wir sparen doch ...

Andreas: Nein, Sie verschulden uns nur langsamer. Wenn ich diesen Monat weniger Verlust schreibe als im letzten Monat,

dann kann ich doch nicht zu meinen Aktionären gehen und sagen: «Wir befinden uns in der Gewinnzone.»

Eveline: Wollen Sie behaupten, der Bundesrat tue das Gegenteil dessen, was er sagt?

Andreas: Genau. Kurz nachdem der Bundesrat das Bankgeheimnis als unverhandelbar erklärt hatte, hat er schon darüber verhandelt.

Eveline: Wir haben gerettet, was zu retten war.

Andreas: So? Erst haben Sie noch verkündet, für Schweizer werde das Bankgeheimnis nicht gelockert, sondern nur für Ausländer, nur um Ihren Beamten die Gemeinheit zu erlauben, Ausländer schlechter zu behandeln als Schweizer. Und jetzt rufen Sie schon danach, man müsse gerechtigkeitshalber die Schweizer gleich schlecht behandeln wie die Ausländer.

Eveline: Wir haben keine andere Wahl...

Andreas: Sie sagen bei jedem Nachgeben, Sie hätten keine andere Wahl und Sie würden die Sache nun abschliessend unter den Tisch kehren, nur um sich dann eine Woche später erneut über ebendiesen ziehen zu lassen.

Eveline: Aber wir haben doch keine andere Wahl...

Andreas: Der Friede in einem Land ist nur gewährt, solange der Staat privates Eigentum schützen kann. Sie hingegen blasen geradezu zum staatlichen Angriff auf das private Eigentum.

Eveline: Ich weiss nicht, wovon Sie sprechen.

Andreas: Das habe ich befürchtet.

Eveline: Missfällt Ihnen sonst noch was an der Politik?

Andreas: Und ob. Ein gefallener Nationalbankpräsident, der über seine privaten Devisengeschäfte gestolpert ist, erteilt zusammen mit einer Wirtschaftsministerin, die ständig falsche Prognosen verkündet, am Swiss Economic Forum der Welt Ratschläge, wie man die Regulierungskrise wegregulieren könnte. Was läuft hier schief?

Eveline: Keine Ahnung. Ich weiss auch noch immer nicht, warum Herr Hildebrand hat gehen müssen.

Andreas: Wegen Insidergeschäften.

Eveline: Was?

Andreas: Haben Sie es nicht gelesen?

Eveline: Ganz ehrlich, das habe ich nicht gewusst.

Andreas: Aber der Nationalrat, der den Verdacht auf Insidergeschäfte des Nationalbankpräsidenten diskret an den Bundesrat weitergeleitet hat, um darauf von diesem erst verpfiffen, dann selber der Indiskretion bezichtigt und schliesslich, nach dem Fall des Nationalbankpräsidenten, an dessen Stelle von der Justiz verfolgt zu werden, während der gescheiterte Nationalbankpräsident zusammen mit einer Bundesrätin am SEF der Welt erklärt, wie man die Welt verbessern könnte – den haben Sie gekannt, oder?

Eveline: Nein. Wer ist es?

Andreas: Christoph Blocher.

Eveline: Ah! Jetzt ist mir alles klar.

Andreas: Was ist Ihnen klar?

Eveline: Christoph Blocher ist schuld an den Devisengeschäften des Herrn Hildebrand.

Andreas Thiel, Jahrgang 1971, ist Schriftsteller und Kabarettist.